Der Verräter

Onkel Hans fuhr nicht fort mit seinem Bericht über die Gefangennahme Jesu, über den Verrat des Judas und die Verleugnung von Petrus. Er sah in die Gesichter seiner Sonntagsschulkinder: Sie alle schienen entrüstet zu sein. „Ja, es ist wirklich eine böse Sache, unsern lieben Herrn Jesus zu verraten!“, meinte der Lehrer dann bedächtig. „Da habt ihr völlig recht. Wir müssen uns oft sehr schämen, dass wir solche Feiglinge sind.“

„Wir?!“, rief Peter und machte ein so verblüfftes Gesicht. „Wieso denn wir?“, fragten die Augen der übrigen Kinder. „Wir sind doch keine Feiglinge!“ Jürgen sah geradezu beleidigt aus.

Onkel Hans schwieg einen Augenblick. Seine Stimme war jetzt leiser als gewöhnlich, und er sprach manchmal so stockend, als müsse er seine Worte erst mühsam hervorsuchen:

„Ja, ihr Jungen und Mädel, so entrüstet wie ihr habe ich auch einmal ausgesehen. Als Zehnjähriger war das, als ich die Geschichte hörte, wie Petrus seinen Herrn verleugnete. ‚Wie kann man so etwas tun?‘ – habe ich gedacht und die Geschichte bald wieder vergessen. Vier Jahre später aber, da ist sie mir wieder eingefallen.

Es war kurz nach dem Kriegsende. Wir alle saßen oft mit knurrendem Magen in der Schule. Unsere größte Freude war die Schulspeisung in der großen Pause, wo jeder Schüler eine Schöpfkelle voll Suppe bekam. Die dampfende Suppe wurde in einem Lieferwagen bis an die hintere Schultür gebracht. Und wir, als die Klasse der ältesten Jungen, mussten täglich einen Jungen stellen, der die Kübel für die einzelnen Klassen dann weiterbeförderte. Aus Mangel an Lehrern geschah das fast ohne
Aufsicht. Und das war unser Glück.

Es bestand bald eine geheime Abmachung zwischen uns: Derjenenige, der die Kübel tragen musste, hatte die Pflicht, seiner Klasse etwas von der Suppe der andern zu ‚organisieren‘, wie wir damals sagten. Eigentlich hieß das: Wir stahlen den kleineren Kindern etwas von ihrem bisschen Essen, auf das sie sich schon den ganzen Morgen lang freuten. Aber daran dachten wir nicht.

Jeder von uns setzte seinen ganzen Ehrgeiz darein, möglichst viel Suppe aus andern Kübeln heimlich für seine Kameraden abzufüllen. Der ängstliche Freddy, der sich einmal nicht getraut hatte, an die andern Suppeneimer heranzugehen, wurde seitdem von keinem mehr für voll genommen. ‚Der Feigling‘ hieß er nur noch.

Ja, so war die Lage, als eines Dienstags im April Günter an die Reihe kam, unser Neuer. Er war erst seit einer Woche da und bisher durch nichts besonders aufgefallen. Er schien ein netter Kerl zu sein, ein kräftiger Bursche.

Tja, und nun geschah das Tolle, dass Günter an dem Morgen dastand und mit heiserer Stimme sagte: ‚Also, damit ihr’s gleich wisst: Ich organisiere keine Suppe! Das – ist doch – Stehlen, – und da – da kann ich nicht mitmachen!‘ Sein Gesicht war ganz blass geworden. Er wusste wohl, was jetzt kommen würde. Und es kam! Die Klasse ging auf ihn los: ‚Du Waschlappen!‘ ‚Du Feigling! Dir werden wir’s schon beibringen!‘ ‚Traust dich ja bloß nicht!‘ ‚Verräter!‘ ‚Na, komm du nur ohne Zusatzsuppe! Dann kannst du was erleben! Hinter der Schule ist ein guter Platz, so einem Verräter zu geben, was er verdient!‘ ‚Ich bin kein Verräter!‘, sagte der Neue und atmete heftig. ‚Ich kann bloß nicht stehlen. Das ist alles.‘ ‚Traust dich ja bloß nicht!‘, schrie ihn einer wieder an. – Da ging der Junge, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ging und kam ohne einen Tropfen fremder Suppe zurück. Ich weiß nicht, wie es kam, aber wir wurden wie ein Rudel Wölfe vor Wut über diesen ‚Verrat‘, wie wir es nannten. Nach der Schule, auf dem freien Platz hinter der Mauer, haben wir ihn zusammengeschlagen, bis unsere Wut verraucht war. Dann ließen wir ihn sitzen und zogen lachend und johlend von dannen: ‚Der hat gekriegt, was er verdient.‘

Ich ging als Letzter und hab mich nicht mehr umgesehen. Aber die Worte, die der verprügelte Kerl uns halblaut nachrief, die höre ich heute noch: ‚Und ich bin doch kein Verräter!‘, stieß der Junge mühsam heraus. ‚Bloß stehlen kann ich eben nicht. Ist denn kein einziger bei euch, der an Jesus glaubt, dass ihr alle nicht wisst, dass er so etwas nicht haben möchte?‘ Ich bin nach Hause gegangen, als ob nichts geschehen sei. Aber die Worte gingen mit: ‚Ist denn kein einziger bei euch, der an Jesus glaubt?‘ Ich aß zu Mittag wie immer. Ich besuchte meine Freunde und lachte und schwatzte. Aber wohin ich auch ging, die Worte kamen mit: ‚Ist keiner hier, der an Jesus glaubt?‘ Diese Worte liefen überall mit: ‚Hier ist keiner, der an Jesus glaubt. Du, Hans, hast ihn verraten und verleugnet‘, schienen meine Kameraden zu rufen. Da ging es mir, wie es dem Petrus ging: Ich ging hinaus und weinte bitterlich.

Und dann war es, als ob Jesus mir zeigte: ‚Sieh, das war nicht das erste Mal, dass du mich verleugnet hast. Hundertmal vorher hast du es getan. In hundert kleinen Proben bist du zum Verräter und Verleugner geworden. Und darum hast du in dieser großen Prüfung erst recht versagt.‘ – ‚Aber, wann habe ich dich denn verraten und verleugnet?‘, rief ich verzweifelt. ‚Ich hab doch immer an dich geglaubt!‘

Da war es, als ob der Herr Jesus mir sagte: ‚Weißt du noch, damals, als du um die Straßenecke liefst, damit der freche Konny aus deiner Klasse nicht sehen sollte, dass du aus der Sonntagschule kamst? – Weißt du noch, wie sie dich gefragt haben, wo du am Sonntag warst? Wie du geantwortet hast: Ach, wir haben einen Ausflug gemacht, und hast dich nicht getraut zu sagen, dass du mit der Sonntagschule unterwegs gewesen bist. Bloß, weil du wusstest, sie würden dann über dich lachen? Weißt du es noch: Bei den Klassenarbeiten hast du mit geschummelt? Mit den andern zusammen hast du Äpfel geklaut? Mit den andern hast du den alten Lehrer Wuttke zur Verzweiflung gebracht? Mit den andern hast du die Heftchen gelesen, die deine Mutter nie hätte sehen dürfen? Mit den andern hast du die Kleinen zur Seite geschubst, die sich nicht wehren konnten? Mit den andern
hast du geschwindelt, geärgert, obwohl du wusstest, dass mich das alles betrübt? Nie hast du die Kraft aufgebracht zu sagen: Da kann ich nicht mitmachen. Ich glaube an Jesus, der möchte das nicht. Und jedesmal, wo du so mitgemacht hast, hast du mich verraten und verleugnet, du Feigling, Hans!‘“ – „So war es, Kinder“, sagte der Sonntagschullehrer. Er wollte noch sagen: „Denkt einmal nach, ob ihr nicht auch schon einmal zum Verräter und Verleugner geworden seid.“ – Aber es war nicht mehr nötig. Es war keiner mehr da, der nicht mit erschrockenem Herzen dagesessen hätte: „Soll ich dich wirklich so oft schon verraten haben, lieber Herr Jesus?“ „Wir wollen unsern Herrn und Heiland bitten, dass er uns unsere Feigheit vergibt und uns hilft, ein neues Leben zu beginnen, so wie er es dem Hans damals geschenkt hat! Er hilft uns. Ich habe es ausprobiert“, sagte der Sonntagschullehrer, und seine Augen leuchteten.

F. K.