Treu bis in den Tod

Eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert

In einem großen Dorf der Insel Madagaskar hatte jahrelang ein Missionar gearbeitet und das Evangelium gepredigt. Die Arbeit war nicht umsonst gewesen. Viele hatten bekannt, an Jesus Christus zu glauben.
Zu denen, die regelmäßig kamen, um aus Gottes Wort belehrt zu werden, gehörten ein Bauer und seine Frau. Sie betrieben eine einträgliche Landwirtschaft. Ihr einziges Söhnchen hieß Ramanabona. Der Kleine war ein aufgewecktes Kind. Die Eltern nahmen ihn oft mit in die Versammlung der Christen, ließen ihn auch die Schule des Missionars besuchen, wo er außer biblischer Geschichte lesen und schreiben lernte. Unter der Dorfjugend nahm Ramanabona mit der Zeit eine besondere
Stellung ein. Einmal sagte er den Jungen, was er in der Bibel gelesen hatte, ein andermal erzählte er ihnen die Märchen seines Landes. Je länger er aber die Missionsschule besuchte, desto mehr verloren die Märchen an Interesse für ihn. Er lernte die Bibel über alles lieben als „das Buch vom Heiland“.
Viele Jahre konnte das Evangelium auf der Insel unbehelligt verkündigt werden. Da kam eine neue Königin auf den Thron, die der Lehre Christi feindlich gesinnt war. Sie fürchtete, ihre Untertanen würden in dem Maße, wie sie diese Lehre annähmen, unfähig und kraftlos werden, die Freiheit ihrer Insel gegen die europäischen Eindringlinge zu verteidigen. Um jeden Preis wollte sie die Unabhängigkeit von Land und Volk wahren. Öffentlich gegen das Christentum vorzugehen, wagte sie vorderhand nicht, aus Furcht, die europäischen Großmächte dadurch gegen sich einzunehmen. So suchte sie durch innere Maßnahmen der Ausbreitung des Christenglaubens entgegenzuwirken. Ein Madagasse, der Christ war, konnte keine Anstellung mehr als Regierungsbeamter erhalten. Ferner mussten die Christen außergewöhnlich hohe Steuern entrichten. Auch von Ramanabonas
Eltern wurden bald so viele Steuern verlangt, dass ihr Landwirtschaftsbetrieb die Gelder nicht mehr aufbringen konnte. Als der Vater sich bei einem Beamten beschwerte, entgegnete dieser: „Lass den christlichen Glauben fahren, und es wird dir wieder besser gehen.“ Die Eltern erwogen ihre Lage ernstlich. Sie sahen die Zeit kommen, wo sie ihr kleines Gut würden verkaufen
müssen. Dann würde ein unwürdiges Sklavenlos ihr und ihres Sohnes Teil werden. Das aber glaubten sie nicht verantworten zu können. Sollte Ramanabona, für den sie gearbeitet und gespart hatten, einmal als Sklave sein Leben verbringen? Nein. Das sollte nicht sein. Sie sprachen mit ihm darüber. Doch Ramanabona erklärte:
„Ich will lieber Sklave sein und Jesus nachfolgen, als ein freier Mann und ihm untreu werden.“
Die Eltern meinten, ihr Sohn sei noch zu jung, um die Tragweite seiner Worte zu ermessen. Und in der Hoffnung, durch ihr Beispiel auf ihn zu wirken, begannen sie, die Zusammenkünfte der Christen mehr und mehr zu meiden.
Allmählich ließ die Königin ihren Hass gegen das Christentum offener zutage treten. Das Predigen des Evangeliums wurde verboten. Übertretungen wurden streng bestraft. Um sich nicht verdächtig zu machen, untersagten die meisten Eltern ihren Kindern den Verkehr mit Ramanabona, der nach wie vor begeistert von seinem Heiland zeugte.
Nachdem die öffentliche Predigt nicht mehr stattfinden durfte, versammelten die Christen der Umgegend sich im Geheimen an einer Waldstelle, fernab von Ramanabonas Wohnort, aus dessen Dorf niemand mehr an den Zusammenkünften teilnahm. Alle, auch Ramanabonas Eltern, hatten ihren Glauben an Christus aufgegeben. Das betrübte den mittlerweile zum Jüngling Herangewachsenen so, dass es ihm nicht mehr möglich war, seine Feldarbeit mit Interesse zu tun. Da die Missionsschule geschlossen und niemand da war, mit dem er über das reden konnte, was ihm über alles ging, suchte
er häufiger die Einsamkeit auf, um zu beten. Einige Male blieb er stundenlang von zu Hause fort, so dass es den Eltern auffiel.
„Du bist gestern wieder lange umhergestrolcht, Ramanabona“, sagte seine Mutter eines Morgens zu ihm. „Geh nun heute sogleich aufs Feld und sieh zu, dass du ein tüchtiger Bauer wirst. Sag dem christlichen Glauben ab! Siehst du nicht, dass es zwecklos ist, sich gegen das Gebot der Königin aufzulehnen?“
Der Jüngling starrte schweigend vor sich hin. Bis jetzt war er seinen Eltern immer untertan gewesen. Musste er sich von jetzt an gegen sie kehren? Als seine Mutter ungeduldig ihre Worte wiederholte, entgegnete er: „Heute – muss ich in den Wald, Mutter.“ – „Und zu welchem Zweck? Vielleicht zur Versammlung der Christen?“, rief die Mutter zornig.
Hier trat der Vater herzu, der die letzten Worte gehört hatte und sagte: „Sei verständig, Junge. Mach es wie wir. Gib das Christentum auf! Es wird dich sonst das Leben kosten.“
Ramanabona schaute seinem Vater fest in die Augen. „Ist es recht, Vater, um äußeren Vorteils willen den Heiland zu verleugnen? Ist er nicht für dich und mich gestorben?“
Der Mann sah einen Augenblick beschämt zu Boden. Dann warf er den Kopf zurück und sagte trotzig: „Wenn der Gott der Christen der Herr aller Herren ist, warum lässt er dann so viel Ungerechtigkeit zu und beweist seine Macht nicht?“
„Er wird sie einmal zeigen und Sieger über alle sein“, erwiderte Ramanabona. „Vater, ich kann nicht anders. Sollte ich auch für ihn sterben müssen, ich bleibe dem Herrn Jesus treu.“
Auf dieses mutige Bekenntnis seines Sohnes hatte der Vater nichts zu erwidern. Auch die Mutter sagte nichts mehr, so dass Ramanabona ohne weiteren Widerstand seinen Plan ausführen konnte. Nach längerer Wanderung durch Wald und Gestrüpp war er am Ziel. Auf einem freien Waldplatz fand er unter einem hölzernen Schutzdach viele versammelt. Der Prediger war
ihm bekannt. Es war ein Eingeborener, der ihm in der Missionsschule Unterricht erteilt hatte. Er redete über die Sünde des Petrus, der seinen Herrn verleugnet hatte, sowie über die Güte und Barmherzigkeit Jesu, der seinen Jünger wiederherstellte und ihn aufs Neue in seinen Dienst berief. Er schloss mit den Worten: „Gott verlangt Treue von uns. Darum möchte ich euch und mich an das Wort des Herrn Jesus erinnern: ‚Ein jeder nun, der mich vor den Menschen bekennen wird, den werde auch ich bekennen vor meinem Vater, der in den Himmeln ist‘ (Matthäus 10,32).“
Daraufhin standen alle auf, um zu beten. In diesem Augenblick erscholl lautes Geschrei. Krieger drangen aus dem Gebüsch hervor und umzingelten die Versammelten. Einige wollten fliehen, aber der Prediger hielt sie zurück: „Flieht nicht! Denkt daran: Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“
Der Anführer der königlichen Schar erklärte alle für verhaftet. Zu je zwei und zwei wurden sie gebunden und auf mühevollem Weg durch den Wald fortgeführt. Ramanabona, der mit einem alten Mann zusammen gefesselt war, unterstützte diesen, so gut er konnte. Der Marsch ging zur Hauptstadt. Es war ein weiter Weg. Als man schließlich in Tananarivo ankam, waren viele der
Gefangenen dem Zusammenbrechen nahe.
Die Königin leitete diesmal selbst die gerichtliche Verhandlung. Einige der Gefangenen, entmutigt durch die Entbehrungen der vorangegangenen Tage und die Angst vor dem, was kommen würde, widerriefen ihren Glauben. Als Jüngster und Letzter hatte Ramanabona vor der Fürstin zu erscheinen. Schon oft hatte er gewünscht, seine Königin einmal zu sehen oder gar in ihre
Leibgarde aufgenommen zu werden. Und nun musste er sich ihren Worten „Schwöre deinem Christenglauben ab! Er hilft nicht in Stunden der Gefahr. Werde ein echter Madagasse!“ widersetzen. Aber lieber als seine Königin war ihm sein Heiland, und nach kurzem Besinnen sprach er laut:
„Ich bin ein echter Madagasse, Majestät. Und weil ich das bin, kann ich den nicht verleugnen, dem ich einmal Treue schwur, so gerne ich dir gehorchen möchte.“
„Der Christusglaube nimmt unseren Männern die Kraft, den Feinden zu widerstehen. Denkst du nicht an die Freiheit deines Volkes?“
„Ich denke daran, Majestät, denn ich liebe mein Volk“, erwiderte der Jüngling unerschrocken. „Aber nur Jesus Christus macht wirklich frei. Und der Glaube an ihn macht stark und treu bis in den Tod.“
„Willst du mich belehren, jung, wie du bist?“, versetzte die Königin in scharfem Ton. „Ich wollte dich retten, aber du willst nicht.“ – Sie winkte mit der Hand. Aufgerichteten Hauptes trat Ramanabona in die Reihen der Gefangenen zurück.
Am folgenden Tag wurden zur Abschreckung der Übrigen die vier edelsten Gefangenen lebendig verbrannt. Ramanabona, der in der vordersten Reihe zusehen musste, hörte ihr Gebet: „Herr, gib uns Kraft, dir treu zu bleiben!“ Für einen Augenblick stieg durchdringendes Schmerzgeschrei aus den Flammen auf. Dann folgte tiefe Stille.
Am Tag darauf musste Ramanabona wieder im Palast erscheinen. Die Königin empfing ihn mit den Worten: „Wenn du dem Gott der Christen abschwörst, werde ich dich mit der Zeit zum ersten Beamten des Staates machen. Du gefällst mir. Besinne dich und bedenke: Es ist deine Königin, die mit dir redet und dir dieses hohe Angebot macht.“
„Aber der König aller Könige verbietet es mir“, lautete die feste Antwort. „Und der, der sein Leben für mich gab, hat die erste Priorität.“ – „Fort mit dem Schwärmer!“, rief die Königin erzürnt. Ihre Geduld war erschöpft. Mit rauher Hand wurde der mutige, junge Bekenner gefasst und hinausgestoßen. Sein Schicksal war besiegelt.
Von den vierzig noch vorhandenen Gefangenen schworen zwanzig ihrem Glauben ab. Die übrigen wurden über einen brennend heißen Weg auf den Gipfel eines hohen Felsens geführt, dessen Fuß ein Fluss bespülte.
„Schaut da hinunter!“, rief der Anführer der Schar. „Ich habe den Befehl, euch alle dort hinabzustürzen. Doch noch habt ihr Gelegenheit, euer Leben zu retten. Noch könnt ihr euren Glauben widerrufen. Es ist nicht die Schuld der Königin, sondern eure eigene, wenn euer Leben nicht geschont wird.“
Zwei von den zwanzig Gefangenen erklärten daraufhin, Christus aufgeben zu wollen. Von den übrigen wurde einer an ein Seil gebunden und dieses an einer vorspringenden Felszacke befestigt. Er schwebte frei über dem schwindelnden Abgrund. „Verleugne deinen Gott!“, rief der Anführer. – „Nein!“, klang es zurück.
Das Seil wurde durchgeschnitten. Der Körper fuhr in die Tiefe. Die übrigen ereilte nacheinander das gleiche Schicksal. Als letzter kam Ramanabona an die Reihe. Lange ruhte das Auge des Anführers auf dem Jüngling, ehe er sein an diesem Tag so oft wiederholtes „Verleugne deinen Gott!“ an ihn richtete.
„Nein“, sprach Ramanabona fest. „Aber ich habe eine Bitte: Gönne mir eine Minute, um zu beten.“
Der Bitte wurde entsprochen. Ramanabona kniete auf dem Felsen nieder. Laut dankte er Gott, dass er ihn würdigte, für seinen geliebten Herrn zu sterben. Dann betete er für die Seinen. Sein letztes Wort galt der Königin und seinem Henker. Mit dem Ruf „Hilf mir, Herr!“ ließ er sich mit dem verhängnisvollen Seil binden.
Während dieses an der Felszacke befestigt wurde, stand der Anführer mit abgewandtem Gesicht da und hielt Augen und Ohren fest geschlossen, bis alles vorüber war. Er hatte schon manch furchtbare Szene erlebt, sollte auch noch manche erleben. Aber die Erinnerung an diesen Augenblick hat ihn nie mehr losgelassen. Das Sterben dieses jungen Christen blieb ihm  unauslöschlich im Gedächtnis und ist das Mittel geworden, dass er sich zwanzig Jahre später selbst dem Heiland übergab.
Die Nachricht von dem Heldenmut und der Treue Ramanabonas hat sich schnell verbreitet. Wie viele durch sein Beispiel und sein Zeugnis noch zu Jesus geführt worden sind, wird die Ewigkeit offenbaren.

Ausschnitt aus der Novemberausgabe der Evangeliumsposaune