Das Lied vom Kreuz

Es war in der Passionszeit. Adolf Stöcker, der Begründer der Berliner Stadtmission, leitete die Konferenz der Mitarbeiter. Zu Beginn gab er das Lied an: „In jener letzten der Nächte…“ Keiner von den Anwesenden kannte das Lied. Das machte dem alten Herrn aber nichts aus. Er sang es vor. Und beim drittenund viertenmal konnten wir es auch singen. Beides, Lied und Melodie machten einen unvergesslichen Eindruck auf alle. Wir spürten, wie es uns ins innerste Heiligtum der Liebe Gottes führte. Einige Tage später geht ein Stadtmissionar in mitternächtlicher Stunde den Nordhafen entlang. In stille Andacht versunken singt er das Lied vor sich hin. Da legt sich ihm eine Hand auf die Schulter. Es war die Hand eines Mädchens, das am Tage schlief, um bei anbrechender Nacht ihrem dunklen Gewerbe nachzugehen.

„Sie singen wohl gerne?“, fragte das Mädchen den Missionar. – „Ja, ich singe gern“, ist die Antwort. „Ich singe auch gern, aber nicht so fromme, schwermütige, sondern lustige Lieder“, entgegnete das Mädchen. – „Gewiss, lustig ist das Lied nicht, aber schön, sehr schön und wahr. Ich werde es Ihnen vorsingen.“ Und ohne ein Ja oder Nein abzuwarten, sang der Stadtmissionar das ganze Lied:

In jener letzten der Nächte,da ich am Ölberg gebetet, war ich vom Blutschweiß gerötet, goss ihn in Strömen für dich. Weh! Und wer weiß, ob wohl je auch du nur denkest an mich!

Lass es die Engel dir sagen, wie viele Streiche und Wunden, an eine Säule gebunden, schweigend ich litte für dich. Weh! Und wer weiß, ob wohl je auch du nur denkest an mich!

Da ich als König verspottet, schmerzlich mit Dornen gekrönet, angespien ward und verhöhnet, dacht’ ich nur immer an dich. Weh! Und wer weiß, ob wohl je auch du nur denkest an mich!

Dacht‘ ich im Sterben noch deiner, werd‘ ich im Himmel nicht minder, herrschend als Überwinder, immer noch denken an dich. Weh! Und wer weiß, ob wohl je auch du nur denkest an mich!

Und merkwürdig, das Mädchen hört zu. Immer eindringender wird der Gesang. Und das Mädchen? Immer aufmerksamer, immer stiller hört es zu, bis ihm heiße Tränen über die Wangen rollen. Kaum ist der letzte Ton verklungen, reicht es dem Missionar die Hand und geht eilig davon. Er kann ihr noch gerade seine Karte reichen. „Meine Dame, wenn Sie jemals in Not kommen sollten, hier ist meine Anschrift!“ Dann verschwindet das Mädchen im Dunkel der Nacht.

Jahre sind darüber hingegangen. Der Stadtmissionar hatte sein Erlebnis am Nordhafen fast vergessen. Da erhält er einen Brief: „Ein Glied in unserer Gemeinde bat mich, Ihnen zu schreiben. Vor Jahren haben Sie in einer Nacht an einem Berliner Hafen einem jungen Mädchen ein ernstes Lied vorgesungen. Dieses Lied hat das Mädchen nicht wieder vergessen können. Es folgte ihm Tag und Nacht. Es wurde ihm so mächtig, dass es ihr sündiges Leben nicht mehr ertrug. Es sagte Berlin Lebewohl und kam in unsere Stadt. Hier fand es eine Stellung in einem Haushalt, erwarb sich das Vertrauen der Herrschaft. Und es gewann die Liebe eines schlichten, fleißigen Handwerkers, der es zur Frau begehrte. Das Mädchen hat dem Mann seine ganze Vergangenheit erzählt. Aber seine Liebe war stark genug, über alles hinwegzusehen. Sie haben geheiratet und führten einige Jahre hindurch eine glückliche Ehe. In der Gemeinde war sie nicht nur eine fleißige Gottesdienstbesucherin, sondern eine willige Mitarbeiterin, die sich unablässig bemühte, Menschen aus inneren und äußeren Bindungen zu helfen.

Vor einigen Wochen erkrankte die Frau und starb kurz darauf. Auf ihrem letzten Lager bat sie mich, Ihnen zu schreiben, dass jenes Lied nicht nur der Anlass geworden ist, ihr Sündenleben aufzugeben. Es war ihr auch der Führer zu Christus, in dessen Blut sie im Glauben Vergebung ihrer Sünden und Heil für ihre Seele gefunden hat. Sie ist im Frieden mit Gott heimgegangen.“